Warum viele trotz Hörgerät schlecht verstehen

Warum viele trotz Hörgerät schlecht verstehen

Stand: 28.11.2025 · geprüft nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen

Viele Menschen tragen ein Hörgerät, hören damit mehr, verstehen aber trotzdem wenig. Das wirkt zunächst widersprüchlich. Die Ursache liegt selten im Gerät. Entscheidend ist die Art, wie Innenohr, Hörnerv und Gehirn das akustische Signal verarbeiten.

Dieser Artikel erklärt verständlich und medizinisch fundiert, warum das Sprachverstehen trotz moderner Technik eingeschränkt bleiben kann.

Hören und Verstehen sind zwei verschiedene Prozesse

Ein Audiogramm zeigt, ab welcher Lautstärke ein Ton gehört wird. Doch es sagt wenig über die Fähigkeit aus, Sprache zu entschlüsseln. Zwei Menschen mit identischem Audiogramm können völlig unterschiedlich verstehen, weil ihre neuronale Verarbeitung verschieden arbeitet.

Wesentliche Einflussfaktoren der Sprachverarbeitung:

Wenn eine dieser Ebenen geschwächt ist, bleibt Sprache trotz ausreichender Lautstärke unscharf.

Die Cochlea liefert nicht immer ein präzises Eingangssignal

Viele Hörverluste verändern nicht nur die Lautstärke, sondern die Struktur des Signals. Dadurch verliert Sprache Kontur.

Typische Veränderungen:
  • Reduzierte Zahl funktionsfähiger Haarzellen
  • geschädigte afferente Synapsen
  • verringerte Feuerrate von Spiralganglienzellen
  • eingeschränkte Frequenztrennung

Moderne Hörgeräte können ein solches Signal verbessern, aber sie können keine fehlenden neuronalen Informationen erzeugen.

Warum Hintergrundgeräusche die eigentliche Herausforderung sind

Sprache im ruhigen Raum ist vergleichsweise einfach. Erst in komplexen Hörsituationen zeigt sich, wie viel zentrale Verarbeitung benötigt wird.

  • viele gleichzeitige Geräuschquellen
  • wechselnde Sprecher
  • räumliche Ablenkungen
  • Dialoge in akustisch anspruchsvollen Räumen

Wenn zentrale Verarbeitung alterungsbedingt oder durch längere auditiven Stress nachlässt, entsteht Hörstress. Betroffene ermüden schneller und verlieren Fokus.

Studienhinweis [Q1 Presacco 2019]: Ältere Erwachsene zeigen unabhängig vom Audiogramm geschwächte Reaktionen im Mittelhirn und Cortex. Die zentrale Repräsentation von Sprache ist ein entscheidender Faktor für das Sprachverstehen im Lärm.

Was Hörgeräte leisten und was nicht

Hörgeräte sind leistungsfähige Signalprozessoren. Sie können:

  • Frequenzen verstärken
  • Störgeräusche reduzieren
  • Richtmikrofone einsetzen
  • hohe Pegel begrenzen

Sie können jedoch keine zentralen Defizite ausgleichen.

  • keine Wiederherstellung geschädigter Synapsen
  • keine Verbesserung der Hirnstammkodierung
  • keine Beschleunigung langsamer zentraler Verarbeitung
  • keine Rekonstruktion verlorener zeitlicher Feinstruktur
Studienhinweis [Q2 Anderson 2011]: Selbst ältere Erwachsene mit normalen Hörschwellen zeigen schlechtere neuronale Repräsentation im Hirnstamm. Die subkortikale Synchronität bestimmt maßgeblich die Sprach-im-Lärm-Fähigkeit.

Warum REM notwendig ist, aber nicht alles löst

REM (Real Ear Measurements) überprüft, ob Sprache über der Hörschwelle und unter der Unbehaglichkeitsschwelle liegt. Es stellt die technische Basis her, ersetzt aber keine zentrale Verarbeitung.

Studienhinweis [Q3 Windle 2023]: Hörgeräte verbessern das SNR, aber zentrale Prozesse bleiben der limitierende Faktor. Einige Algorithmen können sogar Verzerrungen einführen, die das Verstehen erschweren.

Was sich realistisch verbessern lässt

1. Präzise Feinanpassung

Eine Optimierung, die das persönliche Hörprofil des Trägers abbildet und mit echten Klangumgebungen verifiziert wird.

2. Systematisches Hörtraining

Hörtraining stärkt zentrale Verarbeitung, insbesondere Kontraste, Geschwindigkeit und Aufmerksamkeit.

3. Reduktion von Hörstress

Weniger Dauerlärm und bessere Raumakustik entlasten das Gehirn und verbessern das Verstehen.

Fazit

Schlechtes Sprachverstehen trotz Hörgerät hat klare physiologische Gründe. Es liegt selten an der Technik. Entscheidend ist die Qualität der neuronalen Verarbeitung. Wer die Mechanismen versteht, kann realistische Erwartungen entwickeln und gezielt verbessern, was beeinflussbar ist.

Quellen

[Q1] Presacco A et al. (2019). Speech-in-noise representation in the aging midbrain and cortex. PLoS ONE. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0213899

[Q2] Anderson S et al. (2011). A Neural Basis of Speech-in-Noise Perception in Older Adults. Ear and Hearing. https://doi.org/10.1097/AUD.0b013e31822229d3

[Q3] Windle R et al. (2023). Auditory processing and cognitive change during ageing. Frontiers in Neurology. https://doi.org/10.3389/fneur.2023.1122420


Über den Autor

Max Bauer

Maximilian Bauer, MSc. Clinical Audiology
Maximilian Bauer gilt als erfahrener Experte für Hörsystemversorgung, moderne Hörakustik und ethische Beratung im Gesundheitswesen. Er verbindet handwerkliche Präzision mit akademischem Wissen und setzt sich für eine transparente, menschenorientierte Hörversorgung ein.

www.hoergeraete-insider.de


Kommentare

Kommentar von Anja Eichenauer |

Sehr guter und wertvoller Beitrag! Vielen Dank. Für mich ist REM ein gutes Messverfahren, aber als Anpassverfahren setze ich auf subjektive Tests (z.B. RevoLoud).

Antwort von von Maximilian Bauer, MSc. Clinical Audiology

Hallo Frau E.

vielen Dank für Ihren Kommentar!

Ich bin ganz großer Fan von Revoloud. Da es sich noch nicht komplett durchgesetzt hat und da es ein Produkt ist mit geschütztem Namen ist, habe ich es nicht erwähnt. Ich tue das ungern, da sich sonst eventuell andere Anbieter von lautheitsbasierten Anpassverfahren ungerecht behandelt fühlen.

Also ja, Revoloud ist grandios. Bin aber mit sowas zurückhaltend.

Viele Grüße,

Max Bauer

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