Viele Menschen tragen ein Hörgerät, hören damit mehr, verstehen aber trotzdem wenig. Das wirkt zunächst widersprüchlich. Die Ursache liegt selten im Gerät. Entscheidend ist die Art, wie Innenohr, Hörnerv und Gehirn das akustische Signal verarbeiten.
Dieser Artikel erklärt verständlich und medizinisch fundiert, warum das Sprachverstehen trotz moderner Technik eingeschränkt bleiben kann.
Hören und Verstehen sind zwei verschiedene Prozesse
Ein Audiogramm zeigt, ab welcher Lautstärke ein Ton gehört wird. Doch es sagt wenig über die Fähigkeit aus, Sprache zu entschlüsseln. Zwei Menschen mit identischem Audiogramm können völlig unterschiedlich verstehen, weil ihre neuronale Verarbeitung verschieden arbeitet.
- Zustand der Haarzellen
- Synapsenfunktion zwischen Haarzellen und Hörnerv
- zeitliche Präzision und Synchronität der Hörnervfasern
- Verarbeitung im auditorischen Cortex
Wenn eine dieser Ebenen geschwächt ist, bleibt Sprache trotz ausreichender Lautstärke unscharf.
Die Cochlea liefert nicht immer ein präzises Eingangssignal
Viele Hörverluste verändern nicht nur die Lautstärke, sondern die Struktur des Signals. Dadurch verliert Sprache Kontur.
- Reduzierte Zahl funktionsfähiger Haarzellen
- geschädigte afferente Synapsen
- verringerte Feuerrate von Spiralganglienzellen
- eingeschränkte Frequenztrennung
Moderne Hörgeräte können ein solches Signal verbessern, aber sie können keine fehlenden neuronalen Informationen erzeugen.
Warum Hintergrundgeräusche die eigentliche Herausforderung sind
Sprache im ruhigen Raum ist vergleichsweise einfach. Erst in komplexen Hörsituationen zeigt sich, wie viel zentrale Verarbeitung benötigt wird.
- viele gleichzeitige Geräuschquellen
- wechselnde Sprecher
- räumliche Ablenkungen
- Dialoge in akustisch anspruchsvollen Räumen
Wenn zentrale Verarbeitung alterungsbedingt oder durch längere auditiven Stress nachlässt, entsteht Hörstress. Betroffene ermüden schneller und verlieren Fokus.
Was Hörgeräte leisten und was nicht
Hörgeräte sind leistungsfähige Signalprozessoren. Sie können:
- Frequenzen verstärken
- Störgeräusche reduzieren
- Richtmikrofone einsetzen
- hohe Pegel begrenzen
Sie können jedoch keine zentralen Defizite ausgleichen.
- keine Wiederherstellung geschädigter Synapsen
- keine Verbesserung der Hirnstammkodierung
- keine Beschleunigung langsamer zentraler Verarbeitung
- keine Rekonstruktion verlorener zeitlicher Feinstruktur
Warum REM notwendig ist, aber nicht alles löst
REM (Real Ear Measurements) überprüft, ob Sprache über der Hörschwelle und unter der Unbehaglichkeitsschwelle liegt. Es stellt die technische Basis her, ersetzt aber keine zentrale Verarbeitung.
Was sich realistisch verbessern lässt
1. Präzise Feinanpassung
Eine Optimierung, die das persönliche Hörprofil des Trägers abbildet und mit echten Klangumgebungen verifiziert wird.
2. Systematisches Hörtraining
Hörtraining stärkt zentrale Verarbeitung, insbesondere Kontraste, Geschwindigkeit und Aufmerksamkeit.
3. Reduktion von Hörstress
Weniger Dauerlärm und bessere Raumakustik entlasten das Gehirn und verbessern das Verstehen.
Fazit
Schlechtes Sprachverstehen trotz Hörgerät hat klare physiologische Gründe. Es liegt selten an der Technik. Entscheidend ist die Qualität der neuronalen Verarbeitung. Wer die Mechanismen versteht, kann realistische Erwartungen entwickeln und gezielt verbessern, was beeinflussbar ist.
Quellen
[Q1] Presacco A et al. (2019). Speech-in-noise representation in the aging midbrain and cortex. PLoS ONE. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0213899
[Q2] Anderson S et al. (2011). A Neural Basis of Speech-in-Noise Perception in Older Adults. Ear and Hearing. https://doi.org/10.1097/AUD.0b013e31822229d3
[Q3] Windle R et al. (2023). Auditory processing and cognitive change during ageing. Frontiers in Neurology. https://doi.org/10.3389/fneur.2023.1122420

Kommentare
Kommentar von Anja Eichenauer |
Sehr guter und wertvoller Beitrag! Vielen Dank. Für mich ist REM ein gutes Messverfahren, aber als Anpassverfahren setze ich auf subjektive Tests (z.B. RevoLoud).
Antwort von von Maximilian Bauer, MSc. Clinical Audiology
Hallo Frau E.
vielen Dank für Ihren Kommentar!
Ich bin ganz großer Fan von Revoloud. Da es sich noch nicht komplett durchgesetzt hat und da es ein Produkt ist mit geschütztem Namen ist, habe ich es nicht erwähnt. Ich tue das ungern, da sich sonst eventuell andere Anbieter von lautheitsbasierten Anpassverfahren ungerecht behandelt fühlen.
Also ja, Revoloud ist grandios. Bin aber mit sowas zurückhaltend.
Viele Grüße,
Max Bauer
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